Sonntag, 16. März 2014

Die Laudatio

Von ANDREAS RICHARTZ   (M.A.)  /  Brühler Kunstverein

Das Rapunzelkomplott

Sehr verehrte Damen und Herren

Ich begrüße Sie alle herzlich zur Ausstellung der beiden Kölner Künstlerinnen Iris Stephan und Julja Schneider mit dem Titel

Das Rapunzelkomplott

Klingt das irgendwie unspezifisch ironisch? Klingt das vielleicht nach mehreren Deutungsmöglichkeiten? Ein Komplott der Rapunzel, der Titel gebenden jungen Frau in ihrem Turm? Aber für ein Komplott, also eine Verschwörung, braucht es da nicht mindestens zwei?! Rapunzel aber ist ja alleine. Im Turm. Und wartet und wartet. Und als sie schließlich nicht mehr im Turm ist, wartet sie weiter in einer Wüstenei. Und als sie ihren inzwischen erblindeten Prinzen wieder trifft, kann auch nicht im Entferntesten von einer nun folgenden Verschwörung die Rede sein. Denn da endet auch schon das Märchen.

Was ist hier also los?

Kinder brauchen Märchen. Dieser Quasi-Imperativ des gleichlautenden Bestsellers von Bruno Bettelheim erscheint aus heutiger Sicht so aktuell wie die Aufforderung, Schüler brauchten das Periodensystem der Elemente. Ehrlich: Ich habe nie sonderlich viel mit Märchen anfangen können. Unglaubwürdige Plots, null character design, Zeitsprünge über Jahrhunderte binnen fünf Zeilen und oftmals eine - gelinde gesagt - mehr als fragwürdige Gut-Böse-Dichotomie; das alles hat eher Verwirrung denn irgendeine Form der Aufklärung gestiftet. Umso besorgter war ich, als ich die Einladung erhielt, eine Laudatio zur Vernissage einer Ausstellung mit dem Titel Das Rapunzelkomplott zu halten. Gleichwohl wuchs dann schnell der Reiz, eine Auseinandersetzung mit zwei Künstlerinnen und ihrem Werk zu wagen, das sie in den Kontext einer überaus populären Märchen-Figur stellen.

Wie mag es Julja Schneider und Iris Stephan mit Märchen ergangen sein? Offenbar zumindest in den folgenden Punkten ähnlich: Es ist erlaubt, Märchen zu dekontextualisieren, ihre tiefenpsychologische Dimension nicht außer Acht zu lassen, jedoch auch nicht zu sehr zu strapazieren, gleichwohl gerne den Faden ihres Subtextes aufzugreifen, um neu zu deuten, ihn zu entwickeln in der Formulierung eines künstlerischen Ereignisprozesses. UND, Märchen vor allem nicht ganz so ernst zu nehmen, wie es bis heute selbsternannte Translatoren der Bedeutung des inneren Kerns eines Märchens gerne tun. Sonst haben wir es, was Rapunzel betrifft, gar am Ende noch mit der Geschichte einer mütterlichen Essstörung zu tun.

Und dennoch: Irgendetwas ist daran und hat es auf sich mit dieser Rapunzel: Das Warten, das Träumen, das Weggesperrt werden, die unterbundene sexuelle Initiation eines Mädchens und ein Eltern-Prekariat, welches sein Kind und damit seine generative Zukunft für ein paar Handvoll Rapunzelsalat einer blöden Hexe verspricht. DAS ALLES, meine Damen und Herren, sind Themen, die Julja Schneider und Iris Stephan an diesem Sujet interessieren.

Und was Sie daraus machen, ist magischer Surrealismus par excellence. Magisch, weil programmatisch Unerklärlichkeit verbleibt, die durchaus den größeren Teil eines jeweiligen Werkes ausmacht. Eine Unerklärlichkeit, die nicht allein für den Betrachter konzipiert, sondern auch von den Künstlerinnen selbst angestrebt ist während des Schaffensprozesses. Mentale Leere, künstlerische Dissoziation als Ausgangspunkt für ein ins Werk setzen, für die Herstellung einer Assoziation mit dem Material, die sich erst in der Behandlung ergibt.

Für das Multitalent Julja Schneider, die neben ihrer Arbeit als bildende Künstlerin Lyrik und Prosa schreibt, in einer Band singt, für die sie auch die Texte verfasst, sind ausschließlich Worte die Basis für ihre bildnerische Kunst. Worte, die  sie erfindet, die ihr erscheinen, sei es, dass sie sich ihrem Auftauchen am Tage hingibt, oder sie ein nächtliches Traumgeflacker nachträglich übersetzt. Worte bilden und transportieren das Gefühl, welches ihr die Richtung vorgibt; doch die Worte verschwinden oft auch wieder unter Schichten des Malerischen. Und trotz des Ausschlags, den zunächst das Wort gibt, finden wir bei Julja Schneider zuletzt den faszinierenden Fall einer konsequenten Indifferenz, was die Hierarchisierung von Bild und Wort im zu Ende gebrachten Werk betrifft. Diese Konsequenz führt zu einer anarchischen Gleichbehandlung der Ebenen für den Betrachter. In ihrer für diese Ausstellung neu geschaffenen Werkreihe Rapunzels Traum oszillieren das Wort und das Malerische, durchdringen einander und bilden so ein Ganzes, das zu einem abgebildeten Traum-Auffänger im Wachzustand gerinnt. Ein magisch-malerischer Lyrizismus, der weit über Word-Art hinausweist.

Anders bei Iris Stephan. Sie erfindet nicht, sie findet Worte, die sie, wie jene Wort-Magneten z.B. in ihrer Werkreihe der Haarhäuschen gleichberechtigt als Material im Material unterbringt.
Iris Stephan ist eine leidenschaftliche Sammlerin, ihr Atelier ein Ort des Sammelns von Dingen aller Art, die dort zu neuen Bezügen, zu neuen Partnerschaften gefügt werden. Ihre Affinität zur Thematik Aberglaube, Zauber und Hexerei findet ihren Ausdruck vor allem in ihrem magischen Herbarium und der Beatmungsüberwachung, einem Sammelsurium wissenschaftlich-technischer Exponate, die eine neue absurde Anordnung erfahren, welche dadurch gleichzeitig zu einer veritablen Persiflage auf den Kult der Wissenschaft als einzig gültiger Weise der Bestimmung von Wahrheit gerät.
In den neu zusammengestellten Werkreihen Fundorte und Als Jäger ging er fort, in denen sie Collage, Malerei und Objekte vereint, zeigt Iris Stephan in der Verbindung von Bild-, und Objekt-Fundstücken ihre Vorgehensweise mit malerischen Mitteln zum Thema Erinnerung und Neuordnung. Dabei gibt es in ihrer Art der Zitierweise kein Richtig oder falsch. Kategoriale Zitation ohne zu kategorisieren, eine Falschfährtenlegung wie im sprichwörtlichen Märchen. Die Magie überwuchert die Wissenschaft.
Wucherung und damit Zeitlichkeit sind die Hauptmerkmale schließlich auch der Photoserie Treibhäuser, in denen Iris Stephan dem Gedankenspiel eine reale Entsprechung bereitet, was geschieht, wenn die Natur sich die Zivilisation zurück erobert. Dazu überlässt sie Photos von Baustellen, auf denen Türme von Stahlkonstrukten zu sehen sind, einer kontrollierten Zersetzung durch Sämlinge und Mikroben, bis sie jenes Ergebnis nach einer Zeit rapunzelhaften Wartens erreicht, das sie den Zersetzungs-Prozess unterbrechen lässt.

Julja Schneider und Iris Stephan haben neben einer relativen intertextuellen Gebundenheit an die Rapunzel-Thematik mit der Bespielung der neun Ebenen des Zündorfer Wehrturms, der ein ganz besonderer Ausstellungsort in Köln ist, auch kuratorisch eine echte Herausforderung angenommen und sie gemeistert.

Und BITTE nicht zuletzt: Beide machen gerne Spaß und haben Spaß an Humor. Und sie haben selber welchen. Und das wissen sie genau. Man könnte also sagen, Julja Schneider und Iris Stephan nehmen ihren Humor verdammt Ernst. Sie packen ihn am Schopf, schütteln ihn und schauen, was dabei heraus kommt. Herausgekommen ist diese Ausstellung, meine Damen und Herren, eine Ausstellung, die eine Verschwörung zweier Künstlerinnen gegenüber ihrem Thema hervorbringt mit den Mitteln unterschiedlichster Herangehensweisen. Eben ein Rapunzelkomplott.

Und zuletzt, und dann doch wieder auf einer ganz realen Ebene,  erzählt das Rapunzelkomplott (neben dem Bildungseffekt, den es uns hinsichtlich des Namens eines urdeutschen Salates schenkt) auch von den Bedingungen zeitgenössischer bildender Künstler, deren Schicksal oft, was ihre Befähigung zur Geduld betrifft, dem der Rapunzel ähneln muss. Warten (nämlich auf den Kuss der Muse, die Inspiration, auf die Einladung zu Ausstellungen und auf Käufer ihrer Werke) und Träumen (von kommenden Werken, Ruhm, Einladungen zu Ausstellungen und Käufer ihrer Werke) Warten und Träumen, oder auch, um es einmal anders zu formulieren, Geduld üben und visionieren als die beiden Grundbedingungen schöpferischen Tuns, als anthropologische Konstanten auch, die eng verbunden sind mit Neugier, welche wiederum erst zu jenem mehr wissen wollen führt, das die Voraussetzung aller wissenschaftlichen Kategorisierungslust und aller Kunstschöpfung bildet.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit der Ausstellung Das Rapunzelkomplott von Iris Stephan und Julja Schneider.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

© by Andreas Richartz for phenomenon_corporation / 03/2014