“Das
Rapunzelkomplott”
Sehr verehrte Damen und Herren
Ich begrüße Sie alle herzlich
zur Ausstellung der beiden Kölner Künstlerinnen Iris Stephan und Julja
Schneider mit dem Titel
“Das
Rapunzelkomplott”
Klingt das irgendwie unspezifisch ironisch? Klingt das vielleicht nach
mehreren Deutungsmöglichkeiten? Ein Komplott der Rapunzel, der Titel gebenden
jungen Frau in ihrem Turm? Aber für ein Komplott, also eine Verschwörung,
braucht es da nicht mindestens zwei?! Rapunzel aber ist ja alleine. Im Turm.
Und wartet… und wartet. Und als sie
schließlich nicht mehr im Turm ist, wartet sie weiter in einer Wüstenei. Und
als sie ihren inzwischen erblindeten Prinzen wieder trifft, kann auch nicht im
Entferntesten von einer nun folgenden Verschwörung die Rede sein. Denn da endet
auch schon das Märchen.
Was ist hier also los?
Kinder brauchen Märchen. Dieser Quasi-Imperativ des gleichlautenden
Bestsellers von Bruno Bettelheim erscheint aus heutiger Sicht so aktuell wie
die Aufforderung, Schüler brauchten das Periodensystem der Elemente. Ehrlich:
Ich habe nie sonderlich viel mit Märchen anfangen können. Unglaubwürdige Plots,
null character design, Zeitsprünge über Jahrhunderte binnen fünf Zeilen und
oftmals eine - gelinde gesagt - mehr als fragwürdige Gut-Böse-Dichotomie; das
alles hat eher Verwirrung denn irgendeine Form der Aufklärung gestiftet. Umso
besorgter war ich, als ich die Einladung erhielt, eine Laudatio zur Vernissage
einer Ausstellung mit dem Titel “Das
Rapunzelkomplott” zu halten. Gleichwohl wuchs
dann schnell der Reiz, eine Auseinandersetzung mit zwei Künstlerinnen und ihrem
Werk zu wagen, das sie in den Kontext einer überaus populären Märchen-Figur
stellen.
Wie mag es Julja Schneider und Iris Stephan mit Märchen ergangen sein?
Offenbar zumindest in den folgenden Punkten ähnlich: Es ist erlaubt, Märchen zu
dekontextualisieren, ihre tiefenpsychologische Dimension nicht außer Acht zu
lassen, jedoch auch nicht zu sehr zu strapazieren, gleichwohl gerne den Faden
ihres Subtextes aufzugreifen, um neu zu deuten, ihn zu entwickeln in der
Formulierung eines künstlerischen Ereignisprozesses. UND, Märchen vor allem
nicht ganz so ernst zu nehmen, wie es bis heute selbsternannte Translatoren der
Bedeutung des inneren Kerns eines Märchens gerne tun. Sonst haben wir es, was “Rapunzel” betrifft, gar am
Ende noch mit der Geschichte einer mütterlichen Essstörung zu tun.
Und dennoch: Irgendetwas ist daran und hat es auf sich mit dieser
Rapunzel: Das Warten, das Träumen, das Weggesperrt werden, die unterbundene
sexuelle Initiation eines Mädchens und ein Eltern-Prekariat, welches sein Kind
und damit seine generative Zukunft für ein paar Handvoll Rapunzelsalat einer blöden
Hexe verspricht. DAS ALLES, meine Damen und Herren, sind Themen, die Julja
Schneider und Iris Stephan an diesem Sujet interessieren.
Und was Sie daraus machen, ist magischer Surrealismus par excellence.
Magisch, weil programmatisch Unerklärlichkeit verbleibt, die durchaus den größeren
Teil eines jeweiligen Werkes ausmacht. Eine Unerklärlichkeit, die nicht allein
für den Betrachter konzipiert, sondern auch von den Künstlerinnen selbst
angestrebt ist während des Schaffensprozesses. Mentale Leere, künstlerische
Dissoziation als Ausgangspunkt für ein ins Werk setzen, für die Herstellung
einer Assoziation mit dem Material, die sich erst in der Behandlung ergibt.
Für das Multitalent Julja Schneider, die neben ihrer Arbeit als bildende
Künstlerin Lyrik und Prosa schreibt, in einer Band singt, für die sie auch die
Texte verfasst, sind ausschließlich Worte die Basis für ihre bildnerische
Kunst. Worte, die sie erfindet, die ihr
erscheinen, sei es, dass sie sich ihrem Auftauchen am Tage hingibt, oder sie ein
nächtliches Traumgeflacker nachträglich übersetzt. Worte bilden und
transportieren das Gefühl, welches ihr die Richtung vorgibt; doch die Worte
verschwinden oft auch wieder unter Schichten des Malerischen. Und trotz des
Ausschlags, den zunächst das Wort gibt, finden wir bei Julja Schneider zuletzt
den faszinierenden Fall einer konsequenten Indifferenz, was die
Hierarchisierung von Bild und Wort im zu Ende gebrachten Werk betrifft. Diese
Konsequenz führt zu einer anarchischen Gleichbehandlung der Ebenen für den
Betrachter. In ihrer für diese Ausstellung neu geschaffenen Werkreihe “Rapunzels Traum” oszillieren das
Wort und das Malerische, durchdringen einander und bilden so ein Ganzes, das zu
einem abgebildeten Traum-Auffänger im Wachzustand gerinnt. Ein magisch-malerischer
Lyrizismus, der weit über “Word-Art” hinausweist.
Anders bei Iris Stephan. Sie erfindet nicht, sie findet Worte, die sie,
wie jene Wort-Magneten z.B. in ihrer Werkreihe der “Haarhäuschen” gleichberechtigt
als Material im Material unterbringt.
Iris Stephan ist eine leidenschaftliche Sammlerin, ihr Atelier ein Ort
des Sammelns von Dingen aller Art, die dort zu neuen Bezügen, zu neuen
Partnerschaften gefügt werden. Ihre Affinität zur Thematik Aberglaube, Zauber
und Hexerei findet ihren Ausdruck vor allem in ihrem “magischen Herbarium” und der “Beatmungsüberwachung”, einem Sammelsurium wissenschaftlich-technischer Exponate, die eine
neue absurde Anordnung erfahren, welche dadurch gleichzeitig zu einer
veritablen Persiflage auf den Kult der Wissenschaft als einzig gültiger Weise
der Bestimmung von Wahrheit gerät.
In den neu zusammengestellten Werkreihen “Fundorte” und “Als Jäger ging er fort”, in denen sie Collage, Malerei und Objekte vereint, zeigt Iris Stephan
in der Verbindung von Bild-, und Objekt-Fundstücken ihre Vorgehensweise mit
malerischen Mitteln zum Thema Erinnerung und Neuordnung. Dabei gibt es in ihrer
Art der Zitierweise kein Richtig oder falsch. Kategoriale Zitation ohne zu
kategorisieren, eine Falschfährtenlegung wie im sprichwörtlichen Märchen. Die
Magie überwuchert die Wissenschaft.
Wucherung und damit Zeitlichkeit sind die Hauptmerkmale schließlich auch
der Photoserie “Treibhäuser”, in denen Iris Stephan dem Gedankenspiel eine reale
Entsprechung bereitet, was geschieht, wenn die Natur sich die Zivilisation zurück
erobert. Dazu überlässt sie Photos von Baustellen, auf denen Türme von
Stahlkonstrukten zu sehen sind, einer kontrollierten Zersetzung durch Sämlinge
und Mikroben, bis sie jenes Ergebnis nach einer Zeit rapunzelhaften Wartens
erreicht, das sie den Zersetzungs-Prozess unterbrechen lässt.
Julja Schneider und Iris Stephan haben neben einer relativen
intertextuellen Gebundenheit an die Rapunzel-Thematik mit der Bespielung der
neun Ebenen des Zündorfer Wehrturms, der ein ganz besonderer Ausstellungsort in
Köln ist, auch kuratorisch eine echte Herausforderung angenommen und sie
gemeistert.
Und BITTE nicht zuletzt: Beide machen gerne Spaß und haben Spaß an
Humor. Und sie haben selber welchen. Und das wissen sie genau. Man könnte also
sagen, Julja Schneider und Iris Stephan nehmen ihren Humor verdammt Ernst. Sie
packen ihn am Schopf, schütteln ihn und schauen, was dabei heraus kommt.
Herausgekommen ist diese Ausstellung, meine Damen und Herren, eine Ausstellung,
die eine Verschwörung zweier Künstlerinnen gegenüber ihrem Thema hervorbringt
mit den Mitteln unterschiedlichster Herangehensweisen. Eben ein “Rapunzelkomplott”.
Und zuletzt, und dann doch wieder auf einer ganz realen Ebene, erzählt das “Rapunzelkomplott” (neben dem Bildungseffekt, den
es uns hinsichtlich des Namens eines urdeutschen Salates schenkt) auch von den
Bedingungen zeitgenössischer bildender Künstler, deren Schicksal oft, was ihre
Befähigung zur Geduld betrifft, dem der Rapunzel ähneln muss. Warten (nämlich auf
den Kuss der Muse, die Inspiration, auf die Einladung zu Ausstellungen und auf
Käufer ihrer Werke) und Träumen (von kommenden Werken, Ruhm, Einladungen zu
Ausstellungen und Käufer ihrer Werke)… Warten und Träumen,
oder auch, um es einmal anders zu formulieren, Geduld üben und visionieren als
die beiden Grundbedingungen schöpferischen Tuns, als anthropologische
Konstanten auch, die eng verbunden sind mit Neugier, welche wiederum erst zu
jenem mehr wissen wollen führt, das die Voraussetzung aller wissenschaftlichen
Kategorisierungslust und aller Kunstschöpfung bildet.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit der Ausstellung “Das Rapunzelkomplott” von Iris Stephan und Julja Schneider.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
© by Andreas Richartz for phenomenon_corporation /
03/2014